Montag, 18. Juli 2016

Autobahnen schöngerechnet

Gegenwind für die umstrittenen Autobahnen A20 und A39 in Niedersachsen: Die Baukosten wurden nach einem neuen Gutachten künstlich runter gerechnet, die Verkehrsprognosen dagegen hoch geschraubt.

Bei realistischen Werten hätten es weder die Küstenautobahn noch die Verbindung Lüneburg-Wolfsburg als vordringlich in den Entwurf des neuen Bundesverkehrswegeplans (BVWP) schaffen dürfen, sagte der Diplom-Geograf Wulf Hahn von der Fachagentur Regio-Consult im Gespräch mit dem WESER-KURIER.
Die grüne Landtagsfraktion hatte die Expertise in Auftrag gegeben. Sie will jetzt Druck auf die SPD machen, damit diese die beiden Projekte bei der endgültigen Verabschiedung des BVWP durch die schwarz-rote Bundesregierung noch stoppt. „Die Sozialdemokraten in Berlin können einem solchen klima- und umweltfeindlichen Konstrukt nicht zustimmen„, forderte die verkehrspolitische Sprecherin Susanne Menge. Damit aber droht ein Konflikt mit dem niedersächsischen Koalitionspartner. Die Landes-SPD, allen voran Wirtschaftsminister Olaf Lies, ist ein großer Befürworter beider Trassen.
Die A20 soll über 161 Kilometer von der A29 bei Westerstede südlich an Bremerhaven vorbei bis Drochtersen führen, dort die Elbe mit einem Tunnel unterqueren und bis zur A23 bei Hohenfelde weitergehen. Knapp 2,8 Milliarden Euro veranschlagt das Bundesverkehrsministerium für den Bau. Die A 39 soll auf 106,3 Kilometer die Autobahnlücke zwischen Lüneburg-Nord und Weyhausen bei Wolfsburg schließen. Die Kosten dafür beziffert Berlin mit 842 Millionen Euro. Beide Projekte sind im BVWP-Entwurf als vordringlich kategorisiert.
Gutachter fordert Korrektur
„Die Nutzen-Kosten-Verhältnisse sind für beide Autobahnen überhöht und müssen auf Basis aktueller und belastbarer Kostenschätzungen korrigiert werden„, fordert dagegen der Gutachter, der bereits für diverse Städte und Landkreise tätig war. Die 96-seitige Expertise kritisiert, dass die Berechnungen des Bundesverkehrsministeriums bei den Baukosten auf Zahlen von 2012 beruhten.
2014 seien als Kosten für die A 20 bereits mit 3,27 Milliarden Euro, für die A 39 mit rund einer Milliarde Euro veranschlagt worden. Zudem habe man Planungskosten und Ersatzinvestitionen, also Reparaturen, nicht berücksichtigt und den möglichen Reisezeit-Gewinn viel zu hoch bewertet. So seien dort selbst Sekundenersparnisse eingeflossen. „Effekte unter einer Minute nimmt aber eigentlich niemand wahr„, so Hahn.
Nach seiner Alternativrechnung sinkt das Nutzen-Kosten-Verhältnis (NKV) bei der Küstenautobahn von den 1,94 des Verkehrsministeriums auf magere 1,23. Dabei seien Geldwerte für Umwelteingriffe und Flächenentzug für die Landwirtschaft noch gar nicht eingeflossen. Bei der Verbindung Lüneburg-Wolfsburg sieht es noch schlimmer aus: Das NKV stürzt dort auf 0,85.
Kosten überwiegen Nutzen
Die Kosten überwiegen dort also den Nutzen. Die Autobahn dürfte danach gar nicht mehr im BVWP auftauchen. Dabei haben die Gutachter allerdings den von Berlin angenommenen Kilometerpreis von rund zehn Millionen auf 15 Millionen Euro korrigiert. Zum Vergleich: Bei der A 20 sind 20 Millionen Euro pro Kilometer veranschlagt, wobei allerdings zur teure Elbtunnel mit zu Buche schlägt.
Die Expertise zweifelt auch den grundsätzlichen Bedarf der beiden Projekte an. Laut Prognosen des BVWP sollen im Jahr 2030 pro Tag rund 19 000 Fahrzeuge über die A20 fahren. Damit käme sie nur knapp über dem für vierspurige Autobahnen geforderten Richtwert von 18 000 Autos und Lastwagen. „In einzelnen Abschnitten liegt die Belastung aber weit darunter„, erklärte Hahn. So komme etwa das Teilstück zwischen der A27 bis zu Bundesstraße 71 westlich von Beverstedt werktags lediglich auf 9000 bis 10 000 Fahrzeuge innerhalb von 24 Stunden. Die A39 soll danach zwar insgesamt höhere Werte erreichen, schafft aber zwischen Uelzen und Wittingen nicht die geforderten 18000 Fahrzeuge.
Das Gutachten bemängelt weiter, dass man bei der A39 weder Auswirkungen auf den parallel verlaufenden Bahnverkehr noch mögliche Straßen-Alternativen wie den dreispurigen Ausbau der B4 betrachte. Der Verkehrswegeplan missachte damit seine eigenen Ziele, wonach Verkehre auf Netze und Verkehrswege mit höherer Verkehrssicherheit zu verlagern seien. Der Bericht des BVWP rechne zudem die Auswirkungen der Straßenprojekte schön und taxiere den Flächenverbrauch der Autobahnen lediglich auf ein Viertel des tatsächlichen Bedarfs. „Damit werden die selbst gesetzten Klimaziele nicht erreicht.„ Quelle: Weser Kurier

Kommentar der Redaktion:

Die grüne Landtagsfraktion darf sich in ihrer Ablehnung der Küstenautobahn A 20 sowie der Verbindung zwischen Lüneburg und Wolfsburg voll bestätigt fühlen. Aber das wertet die Aussagen in der Expertise nicht ab. Im Gegenteil: Detailliert nimmt das Papier die Methoden des Bundesverkehrswegeplans auseinander, zeigt Widersprüche zu den selbst formulierten Zielen wie Verkehrssicherheit oder Nachhaltigkeit auf, hinterfragt zurecht bestimmte Annahmen und Berechnungsgrundlagen wie etwa das sekundengenaue Erfassen von Zeitersparnissen. Und dabei fällt das Zeugnis für die beiden Mega-Vorhaben ziemlich vernichtend aus. Der Kosten-Nutzen-Faktor der vierspurigen Trassen schrumpft erheblich, die beiden Autobahnen haben danach in der Prioritätenliste des Bundes nichts mehr zu suchen. Das wiederum birgt erheblichen Konfliktstoff für die Koalition in Hannover, denn die SPD will die Autobahnen unbedingt. Man darf gespannt sein, wie das rot-grüne Bündnis aus dieser Bredouille wieder rauskommt.